Das Weinbaugebiet Bordeaux

Geschichte und Wissenswertes über das Bordelais

Kein dem Wein noch so reserviert gegenüberstehender Biertrinker, kein noch so überzeugter Abstinenzler, der mit diesem Namen nichts anfangen kann: wenn es um Bordeaux geht, hat doch jeder schon mal irgendwas gehört. Klar, Reisepässe haben diese Farbe. Aber darum geht es nicht. Sondern eher um die wunderschönen Schlösser, tiefen Gewölbekeller, großen Namen und astronomischen Preise. All diese gedanklichen Bilder sind wahr – und auch wieder nicht. Denn in Bordeaux sind zwar viele Dinge bis ins kleinste Detail geregelt, andere wiederum erscheinen ganz und gar nicht so, wie man sie vielleicht erwartet hätte. Doch dazu später mehr.

Das Bordeaux – oder Bordelais, wie es die Franzosen selbst nennen – liegt auf einem riesigen Kalksteinsockel und vereinigt 110 000 Hektar auf sich. Damit ist es nicht nur größer als die Rebfläche ganz Deutschlands, sondern sogar das größte geschlossene Weinbaugebiet der Welt. Der insgesamt produzierte Most liegt mit etwa sechs Millionen Hektolitern zwar hinter dem deutschen mit neun Millionen, dies aber ist eher ein Zeichen dafür, dass in Bordeaux deutlich mehr qualitativ hochwertiger Wein produziert wird. Und ohnehin befinden wir uns im ertragreichsten Weinbaugebiet des Kontinents. Die Weintraube ist hier bildlich gesprochen der größte Arbeitgeber: mehr als 55 000 Menschen sind in der Branche beschäftigt. Allein schon deswegen sollte man nicht davon ausgehen, es mit einem homogenen Anbaugebiet zu tun zu haben. Beginnen wir am besten in der Herzkammer des Bordeaux, dem Médoc. Bis vor etwa 150 Jahren fand sich hier nur eine unwirtliche, windige Dünenlandschaft mit nicht mehr als ein wenig Gestrüpp – dann begann man, durch die Pflanzung von Kiefern das Sumpfland zu entwässern und den kargen Böden feine, hochkomplexe Tropfen abzutrotzen. Die dreiecksförmige Halbinsel wird im Westen vom Meer, im Osten von der Gironde begrenzt, der Hauptschlagader der Region. Streng genommen ist die Gironde kein Fluss, sondern ein Ästuar – die trichterförmige gemeinsame Mündung der Flüsse Garonne und Dordogne an der flachgründigen Senkungsküste des Atlantik. Hier, wo das Klima dank des Ozeans besonders mild und ohne größere Schwankungen ist, reihen sich die kommunalen Appellationen aneinander wie Perlen an einer Schnur: Saint-Estèphe etwa, dessen gerbstoff- und säurebetonten Weine mit leicht mineralischer Note prädestiniert sind für einen langen Dornröschenschlaf im heimischen Weinkeller. Pauillac mit den wohl gewaltigsten Roten der ganzen Region, deren überwältigende Fülle sich erst mit den Jahren selbst zähmt und dann in ein charakteristisches Bouquet nach Zedernholz und Schwarzen Johannisbeeren hinübergleitet. Oder auch die hocheleganten Weine aus Margaux, deren betörende floral-würzige Finesse mit den Jahren Ausdruck in einer leichten Veilchenaromatik findet.

Der ansonsten eher unbeliebte Kaiser Napoleon III. war es, der 1855 anlässlich der Weltausstellung ein geradezu bahnbrechendes Klassifikationssystem auf den Weg brachte, das bis zum heutigen Tage seine Gültigkeit bewahrt hat. Es legt – anders als jenes im Burgund, das das Potential der einzelnen Lagen als Grundlage nimmt – den Fokus auf die Chateaus und errechnete sich damals nach den Preisen, die ebenjene in den vergangenen hundert Jahren im Durchschnitt für ihre Weine aufrufen konnten. Diese Chateaus können – wie man es sich als Besucher gern vorstellt und viele Güter auch mit der Abbildung ihres Anwesens auf den Flaschen suggerieren – hochherrschaftliche Anwesen sein, wie etwa Margaux mit seinem klassizistischen Portal, Palmer mit seinen schlanken Türmchen oder das „Versailles des Médoc“, Chateau Beychevelle. Unter den mehreren tausend Chateaus sind aber auch viele, die optisch eher an einen Bauernhof erinnern. Denn anders als in den meisten anderen Teilen Frankreichs war Gutsbesitz nicht allein dem Adel vorbehalten, sondern stand auch dem Bürgertum offen – der Grund dafür, dass während der Französischen Revolution hier kaum Enteignungen vorgenommen wurden und die historische Kontinuität zwischen einem Gut und seinen Besitzungen und Besitzern hoch ist. Die Abfüllung der Weine vor Ort, die ja den Chateau-Wein eigentlich erst vollkommen macht, setzte sich jedoch vor gerade einmal hundert Jahren als Reaktion auf unschöne Panscherei-Skandale durch.

Unterschieden wird seit 1855 also zwischen der großen Menge der Crus Bourgeoises und dem feinen Sahnehäubchen obendrauf, das die Grand Crus Classés bilden. Diese 61 Betriebe sind wiederum in fünf Klassen unterteilt, von Cinquième bis Premier. In dieser obersten finden sich die legendären Fünf, deren Namen die Herzen von Weinliebhabern rund um den Globus höher schlagen lassen: Margaux in der gleichnamigen Appellation, Haut-Brion im streng genommen nicht mehr zum Médoc gehörenden Pessac-Léognan und in Pauillac die Güter Latour, Lafite-Rothschild und Mouton-Rothschild. Letzteres gelangte erst im Jahr 1973 in den Wein-Olymp – nicht als bloßer Verwaltungsakt, sondern standesgemäß vorgenommen vom Landwirtschaftsminister und späteren Präsidenten Jacques Chirac. Mouton-Rothschild ist ohnehin geradezu ein Punk unter den sonst sehr konservativ-distinguierten Erscheinungen: jedes Jahr gestaltet ein anderer namhafter Künstler das Flaschenetikett. Was 1945 anlässlich der Befreiung von der deutschen Besatzung begann, wurde von Größen wie Picasso, Warhol, Kandinsky und Gerhard Richter mit teilweise sehr kontroversen Werken fortgeführt. Sein Aufrücken von der zweiten in die erste Klasse war die einzige Veränderung, die seit nunmehr 170 Jahren am etablierten System vorgenommen wurde. Dabei sind die qualitativen Unterschiede zwischen höher- und niederrangigen Chateaus oft geringer als solche zwischen verschiedenen Jahrgängen ein und desselben Betriebes. Ohnehin wird die starre Ordnung oft kritisiert, lässt sie den umgangssprachlich auch „5er“ oder „4er“ bezeichneten Häusern doch kaum die Möglichkeit, für ihre Weine ähnlich hohe Preise zu verlangen wie ihre Kollegen aus den höheren Ligen, auch wenn sie sich noch so viel Mühe geben.

Médoc ist nicht die einzige Region am linken Ufer der Gironde, weiter aufwärts liegen auch die langgestreckten Graves mit ihren Pinienwäldern, wo vor über 2000 Jahren die Weinbau-Historie ihren Anfang nahm. Die Unterscheidung zwischen den beiden Flussufern ist dabei kein rein geografischer: auf der linken Seite dominiert Cabernet Sauvignon die Cuvées, was ihnen eine gewisse Strenge verleiht, meist gepaart mit zupackendem Tannin und knackiger Säure – die besten Voraussetzungen für eine lange Flaschenreife. So dunkel und gehaltvoll waren die Weine allerdings nicht immer: zu Beginn der Frühen Neuzeit muss man sie sich eher blassrot vorstellen, wovon die englische Bezeichnung „Claret“ zeugt, die damals zur Unterscheidung von den kräftigen Rotweinen der Iberischen Halbinsel gebraucht wurde und bis heute der übliche Name für Bordeaux in Großbritannien ist. Damals verschnitt man die leichten Weine gern mit kräftigeren aus dem französischen Südwesten.

Am rechten Ufer hingegen ist der Merlot Hauptakteur in den Weinen, was diese allgemein fruchtbetonter, früher zugänglich und sanfter im Geschmack macht. Im Gegensatz zum Cabernet Sauvignon, dem es dafür an Fülle mangelt, wird Merlot hin und wieder auch mal sortenrein ausgebaut. Etwa vom Chateau Pétrus, dessen namensgebende Heiligenfigur aus flechtenüberwachsenem Stein so etwas wie ein kleines Wahrzeichen des Pomerol ist, in dem wir uns nun befinden. Es profitiert ebenso wie seine nur unwesentlich weniger bekannten Nachbarn Lafleur, La Conseillante und Le Pin vom hohen Kiesanteil und dem darunter liegenden, stark eisenhaltigen Lehm. Das Resultat sind warme, samtig-mollige Tropfen mit feiner Trüffelaromatik, die von den Franzosen liebevoll als „gras“, fett, bezeichnet werden. Pomerol gilt mit nur 800 Hektar als die kleinste Appellation im ganzen Bordelais, aber als qualitatives Zentrum des Libournais – zusammen mit dem südlich gelegenen Saint-Émilion. In dieser AOC wird die seit 1955 bestehende Klassifizierung anders als im Médoc alle zehn Jahre einer Überprüfung unterzogen, was jedoch zu erbitterten Gerichtsprozessen und jüngst aufgrund von Streit über die Bewertungsgrundlagen sogar zum freiwilligen Ausscheiden der Spitzengüter Cheval Blanc, Angélus und Ausone führte. Wo der Merlot jedoch kein Solo spielt, wird er oft vom Cabernet Franc verfeinert, der eine gewisse Schwere und Würzigkeit mit einbringt. Er ist eine von vier „Nebensorten“, die die beiden Leitreben geschmacklich unterstützen. Außer ihm setzt man gern auf den kräftig-kantigen Petit Verdot. Der sehr farbintensive, fruchtige Malbec und die süffige Carménère mit dunkler Aromatik nach Tabak und Leder sind aufgrund ihrer Empfindlichkeit inzwischen nahezu vollständig aus den Weinbergen verschwunden. Dafür drängen seht 2021 sechs neu zugelassene Reben ins Feld, die den Anforderungen immer heißerer und trockenerer Sommer Rechnung tragen sollen.

Bordeauxweine, zumindest die besseren roten, sind definitiv nichts für Ungeduldige: fünf Jahre Zeit sollte man ihnen mindestens geben, um ihren Charakter gebührend offenbaren zu können. Und viele Grand Crus werden von gut betuchten Sammlern nicht für den eigenen Genuss erworben, sondern sollen Kindern und Enkeln als langfristige Wertanlage dienen. Ohnehin empfiehlt es sich, die Weine nur direkt ab Weingut (was jedoch als nahezu unmöglich gilt) oder aber vom Fachhändler des Vertrauens zu beziehen: insbesondere ältere Flaschen auf Auktionsplattformen und in der Gastronomie sind häufig das Produkt versierter Fälscher: vom Chateau Pétrus aus 1982, einem Jahrhundertjahrgang mit 100 Parker-Punkten, werden in Las Vegas jeden einzelnen Monat mehr Flaschen entkorkt, als man damals insgesamt produziert hatte. Apropos Parker: ohne den Weinkritiker aus Baltimore scheint nichts zu gehen in der Vermarktung, was ein erstes Indiz dafür liefert, dass das Bordelais ohne den Einfluss der angelsächsischen Welt nicht den Weltruhm heutiger Tage erreicht hätte. Die begehrten Punkte lassen sich dabei oft genug eins zu eins in Ladenpreise umrechnen. Das implizite Diktat der Preispolitik gilt vielen aber weit weniger bedenklich als die „Parkerisierung“ des Geschmacks: dem nahezu unangreifbaren Weinpapst wird vorgeworfen, mit seiner Bevorzugung alkoholreicher, stark konzentrierter Weine aus hochreifem Lesegut und geprägt durch kräftige Holztöne hauptsächlich dem Geschmack seiner amerikanischen Kunden Rechnung zu tragen und damit die unterschiedlichen lokalen Traditionen historischer Kulturlandschaften nach und nach einzuebnen.

Dabei wird den Franzosen landläufig eigentlich unterstellt, keinerlei fremde Einmischung in ihre Angelegenheiten zu dulden – doch an der Entwicklung des Bordeaux hatten Ausländer seit jeher einen großen Anteil. Auch wenn es die Einheimischen nicht gerne hören, die Glorie der Bordeaux-Weine verdanken sie in nicht geringem Maße Engländer und Iren. Die ganz und gar nicht französischen Namen vieler Chateaus wie Talbot, Belgrave oder Kirwan erinnern daran, dass jahrhundertelang enge Bande zwischen Frankreich und den Britischen Inseln bestanden. Die ersten wurden vor fast 900 Jahren geknüpft, als der Normannenherzog Heinrich II., später englischer König, Eleonore von Aquitanien heiratete und damit die Region für England in Besitz nahm. Die strategisch günstige Lage als größter Atlantikhafen des Landes wurde von Heinrichs Nachkommen mit allerlei Privilegien belohnt, die auch erhalten blieben, als während des Hundertjährigen Krieges Bordeaux wieder zu Frankreich kam. Zu dieser Zeit musste man sich mit dem Trinken ranhalten: Flaschenwein gab es nicht und jener in Fässern transportierte war nicht allzu lang haltbar. Das änderte sich erst, als die Technik der Schwefelung sich allmählich durchsetzte. Nun konnte der Wein auch in weit entfernte Gebiete wie die französischen Überseekolonien exportiert werden, vor allem der weniger hochwertige. Das traf sich ganz gut, denn die Engländer hatten im Laufe der Zeit ihren Geschmack verfeinert und bestanden auf den allerbesten Tropfen. Nun waren sie allerdings misstrauisch, ob die Franzosen ihnen diese auch zuverlässig liefern würden. Also gründeten sie vor Ort kurzerhand eigene Handelshäuser, verlegten sich nach deren erfolgreicher Etablierung sogar selbst aufs Weinmachen. In den berühmten Tagebüchern des englischen Chronisten Samuel Pepys findet sich eine anerkennende Notiz aus dem Jahr 1663, in welcher er einem „Ho-Bryan“ (gemeint ist Haut-Brion) „a good and most perticular taste that I never met with“ bescheinigt. Auch den aus England stammenden Bewohnern der Neuen Welt lag der Geschmack eines guten Bordeaux noch auf der Zunge: Thomas Jefferson etwa, dritter Präsident der Vereinigten Staaten, bereiste während seiner Zeit als Gesandter das Bordelais, führte akribisch Buch über die Güter und deren Weine und notierte schwer beeindruckt, dass seine junge Nation dem auf jeden Fall nachzueifern habe, wolle sie in der Welt etwas gelten. Privat galt er als fanatischer Sammler der besten Bordeaux’, angeblich aus seinem Besitz stammende Flaschen gelangen zu absoluten Mondpreisen immer mal wieder in Auktionen, stellen sich aber früher oder später als Fälschungen heraus.

Wo edle Weine wachsen, da darf natürlich auch die regionale Küche in nichts nachstehen. Beliebt ist bei den erstaunlich abwechslungsreichen Gerichten, die sowohl Fleisch, vor allem vom Rind, als auch Fisch und Meeresfrüchte einbeziehen, die Zubereitungsart á la Bordelaise, also an einer Soße aus vorzugsweise rotem Wein und – ganz wichtig – Schalotten statt Knoblauch und Zwiebeln. Im Becken von Arcachon werden Austern gezüchtet, außerdem gilt die Gironde als eines der letzten natürlichen Refugien des Europäischen Störs, was – wenn auch nur in bescheidenem Umfang – die Gewinnung von Kaviar ermöglicht. Er teilt sich de Lebensraum mit dem heringsähnlichen Maifisch, der gern über Rebenholz gegrillt und dann puristisch nur mit Kräutern oder in einer leichten Weißweinsoße verzehrt wird, und dem aalförmigen Neunauge. Das lebende Fossil, bekannter unter dem Namen Lamprete, genießt man vorzugsweise als Schmorgericht, dessen Sud mit dem Blut des Tieres gebunden wird. Zahlreiche Confits, Pasteten und Stopflebern bilden bei alldem die Zwischengänge. Auch Liebhaber von Süßspeisen kommen auf ihre Kosten: Canelés, kleine, außen karamellisierte Kuchen in Gugelhupf-Form erfreuen sich ebenso großer Beliebtheit wie die Makronen aus Saint-Émilion, klassisch aus Mandeln, Zucker und Eiweiß. Für eine Rotweinregion betrüblich und überdies für Frankreich ganz und gar unüblich ist allein das völlige Fehlen einer regionalen Käsespezialität.

Wenn landläufig von Bordeaux die Rede ist, geht es in den allermeisten Fällen um Rotwein, der ja auch auf fast 90 Prozent der Anbaufläche kultiviert wird. Genauso hellhörig sollte man aber werden, wenn die Sprache auf trockene Weiße und Süßweine kommt. Erstere gedeihen, neben kleineren Beständen in den Graves, vor allem in Entre-deux-Mers. Die Appellation mit dem poetischen Namen, die sie ihrer Lage zwischen Garonne und Dordogne verdankt, nimmt die Bezeichnung „trocken“ durchaus ernst, denn während sich diese in Deutschland auf Weine bis neun Gramm Restzucker erstreckt, sind es hier allerhöchstens vier. Auf den Böden mit hohen Kies- und Tonanteilen gedeihen vor allem Sauvignon Blanc, Muscadelle und Sémillon, die sich meist leicht und unkompliziert präsentieren, eine herrliche Begleitung für Fischgerichte abgeben und nur einen Bruchteil dessen kosten, was für namhafte Rotweine verlangt wird. Auf den Sémillon treffen wir erneut, wenn wir uns ins weiter südlich gelegene Sauternes-Barsac begeben. Er ist der Hauptbestandteil der dortigen goldgelben Weine mit nicht selten fast sirupartiger Konsistenz. Diese werden nicht aufgespritet, müssen aber dennoch mindestens 13 Volumenprozent enthalten – und haben daher wenig mit deutschen Süßweinen gemein, deren Alkoholgehalt eher bei sechs bis neun Prozent liegt. Durch das Zusammentreffen des kühlen Flüsschens Ciron mit der wärmeren Garonne entsteht besonders im Herbst ein feiner Nebel, der die Entwicklung der Edelfäule an den dafür besonders anfälligen Sémillon-Trauben und damit den Anstieg des Zuckergehaltes fördert. Die Kombination von Alkohol, Zucker und der Säure des Sauvignon Blanc verleihen den Weinen eine nahezu unbegrenzte Lebensdauer: während Rotweine aus dem Bordeaux viele Jahrzehnte gelagert werden können, sind die Süßweine mit ihrer unfassbar komplexen geschmacklichen Vielfalt faktisch für Jahrhunderte geschaffen. Stellvertretend für die ganze Appellation steht Chateau d’Yquem, das in der dreiklassigen Sauternes-internen Hierarchie als einziges in der ersten Liga spielen darf. Anders als bei den Rotweingütern wird hier kein Zweitwein erzeugt, und entspricht ein Jahrgang qualitativ nicht den enorm hohen Standards des Gutes, gelangt er gar nicht erst in den Handel. So kompromisslos sind allerdings die wenigsten Betriebe.

Man darf sich die Erschaffung eines Grand Vin nämlich nicht zu romantisch vorstellen. Nachdem das Lesegut streng nach Rebsorten getrennt zu Most verarbeitet wurde, wird versuchsmäßig viel verschnitten und gekostet – aber stets mit dem Taschenrechner in der Hand. Denn es ist undenkbar, die gesamte Ernte nur in den besten Wein fließen zu lassen, weshalb die meisten Weingüter auch einen preisgünstigeren Zweit-, manche sogar einen Drittwein anbieten. Diese aber sollen auch nicht nur aus mittelmäßigem Wein bestehen, da die qualitative Kluft zum Erstwein sonst zu groß wäre. Man kann die Weinbereitung also durchaus als betriebswirtschaftlich-önologische Knobelaufgabe begreifen, an deren Ende sämtliches Lesegut verarbeitet, die Kosten gedeckt und Weine auf Flaschen gezogen wurden, die nicht nur gut sind, sondern im besten Falle auch noch den ganz eigenen Stil des Hauses erkennbar werden lassen.

Dennoch scheut man keine Kosten und Mühen, um den wertvollen Trauben die bestmögliche Pflege angedeihen zu lassen. Das konnte man bereits im 19. Jahrhundert beobachten, als der Falsche Mehltau das Bordelais heimsuchte. Ohnehin schon doppelt bitter, denn dieser war erst durch den Import amerikanischer Rebstöcke ins Land gekommen – die man aber brauchte, weil sie sich im Gegensatz zu den heimischen resistent gegen die Reblaus erwiesen, die gerade erst verheerende Zerstörungen angerichtet hatte. Ein findiger Naturwissenschaftler der Universität Bordeaux entdeckte beim Spaziergang durch die Weinberge, dass eine Lösung aus Kalkmilch und Vitriol den Pilzbefall verhinderte – diese war eigentlich nur aufgebracht worden, um Spaziergänger durch den unappetitlichen hellblauen Schimmer die Lust am Diebstahl der Trauben zu nehmen. Der Botaniker entwickelte daraufhin auf Basis von Kupfersulfat das erste Fungizid der Welt, das als „Bordeauxbrühe“ schnell Bekanntheit erlangte und noch heute im Einsatz ist. Hundert Jahre später treiben neue technische Möglichkeiten die Rebpflege im wahrsten Sinne des Wortes in ungeahnte Höhen: einem namhaften Weingut musste es behördlich untersagt werden, die Pflanzen mittels Hubschrauber trockenzufönen, andere bedecken den gesamten Boden ihrer Weinberge mit Plastikplanen, damit dieser kurz vor der Lese kein Wasser aufzunehmen mehr imstande ist, was in die Beeren wandern und damit ihre Aromenkonzentration mindern könnte.

So sagenumwoben die Namen sind, so homöapathisch sind die Abgabemengen der Güter an Kunden. Sie können auch gar nicht anders, denn sie bewirtschaften gerade mal fünf Prozent der Bordelaiser Gesamtfläche und Betriebe wie Lafite-Rothschild mit über 100 Hektar sind dabei noch die Ausnahme: die meisten Güter verfügen nur über 40 bis 60 Hektar, manche wie etwa Le Pin aber auch über gerade mal zwei. Die starke Ertragsregulierung samt strengster Selektion tut ihr Übriges dazu, dass selbst namhafte Einkäufer oft nicht mehr als zwei oder drei Kisten zugeteilt bekommen. Wohl dem also, der einen guten Draht zu einem der etwa 300 Négociants hat: an diese nahezu allmächtigen Zwischenhändler haben die großen Güter ihren Verkaufsbereich faktisch outgesourct – meistens erwerben sie nicht den bereits in Flaschen gefüllten Jahrgang, sondern per Subskription den noch in Fässern ruhenden Jungwein. Und natürlich wohl dem, der wenige oder auch nur ein einziges Mal in seinem Leben die Gelegenheit bekommt, einen solchen Tropfen zu kosten.

Die luxuriöse Aura um den Bordeaux kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Region in den vergangenen 20 Jahren auch ordentlich zu kämpfen hat: der Absatz sinkt, einerseits wegen starker und oft preisgünstigerer Konkurrenz aus Ländern wie Australien, Chile oder Südafrika, andererseits wegen der sich immer mehr abzeichnenden Präferenz gerade jüngerer Menschen für weiße statt roter Weine und Easy Drinking im Allgemeinen. Auch den Trend zu mehr Transparenz, Nachhaltigkeit und biologischem Weinbau hat man lange Zeit ziemlich verschlafen. Über Ermüdungserscheinungen spricht man nicht gern, aber schon des öfteren musste der Staat helfend einspringen und Überproduktion zähneknirschend in die Herstellung von Industriealkohol gegeben werden. Darüber hinaus sind viele Güter massiv verschuldet und werden immer mal wieder von Großkonzernen aufgekauft. Doch man ist zuversichtlich, die Durststrecke meistern zu können. Wie sollte man auch nicht? Die Crus Bourgeois und Crus Artisans produzierenden, meist kleinen Güter, häufig seit Generationen in Familienhand, liefern solide, preiswerte Qualität im großen Mittelfeld. Und es gibt ja nicht nur Rotweine, sondern auch weiße, Rosés, Süßwein und sogar Cremant. Pro Sekunde werden auf der Welt 22 Flaschen aus dem Bordelais verkauft, mehr als 680 Millionen pro Jahr. Mit den fast vier Milliarden Euro jährlichen Umsatzes steht man auf einer Stufe mit dem Axel Springer Verlag oder der Lebensmittelsparte von Dr. Oetker. Die Franzosen haben in der Vergangenheit zwar oft auf Hilfe von außerhalb vertraut, den Weinabsatz stemmen sie aber heute gern selbst: mehr als de Hälfte der Bordeauxweine wird im eigenen Land konsumiert. In einer Nation, dessen Esskultur als UNESCO-Welterbe gilt, kann dies nicht als bloßer Lokalpatriotismus abgetan werden kann, sondern ist viel eher als Einladung an die Welt zu verstehen, Bordeaux im 21. Jahrhundert noch einmal völlig neu zu entdecken. Text: Dario Sellmeier

Die luxuriöse Aura um den Bordeaux kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Region in den vergangenen 20 Jahren auch ordentlich zu kämpfen hat: der Absatz sinkt, einerseits wegen starker und oft preisgünstigerer Konkurrenz aus Ländern wie Australien, Chile oder Südafrika, andererseits wegen der sich immer mehr abzeichnenden Präferenz gerade jüngerer Menschen für weiße statt roter Weine und Easy Drinking im Allgemeinen. Auch den Trend zu mehr Transparenz, Nachhaltigkeit und biologischem Weinbau hat man lange Zeit ziemlich verschlafen. Über Ermüdungserscheinungen spricht man nicht gern, aber schon des öfteren musste der Staat helfend einspringen und Überproduktion zähneknirschend in die Herstellung von Industriealkohol gegeben werden. Darüber hinaus sind viele Güter massiv verschuldet und werden immer mal wieder von Großkonzernen aufgekauft. Doch man ist zuversichtlich, die Durststrecke meistern zu können. Wie sollte man auch nicht? Die Crus Bourgeois und Crus Artisans produzierenden, meist kleinen Güter, häufig seit Generationen in Familienhand, liefern solide, preiswerte Qualität im großen Mittelfeld. Und es gibt ja nicht nur Rotweine, sondern auch weiße, Rosés, Süßwein und sogar Cremant. Pro Sekunde werden auf der Welt 22 Flaschen aus dem Bordelais verkauft, mehr als 680 Millionen pro Jahr. Mit den fast vier Milliarden Euro jährlichen Umsatzes steht man auf einer Stufe mit dem Axel Springer Verlag oder der Lebensmittelsparte von Dr. Oetker. Die Franzosen haben in der Vergangenheit zwar oft auf Hilfe von außerhalb vertraut, den Weinabsatz stemmen sie aber heute gern selbst: mehr als de Hälfte der Bordeauxweine wird im eigenen Land konsumiert. In einer Nation, dessen Esskultur als UNESCO-Welterbe gilt, kann dies nicht als bloßer Lokalpatriotismus abgetan werden kann, sondern ist viel eher als Einladung an die Welt zu verstehen, Bordeaux im 21. Jahrhundert noch einmal völlig neu zu entdecken.

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