Das Fenster zum Meer
Nach einem durchaus langen, durchaus intensiven, vor allem aber überaus interessanten Besuch in einer Bodega, von der weiter unten noch die Rede sein wird, machten sich Núria, unsere Reiseleiterin, vier Schweizer (Bären waren keine darunter), sowie der oso alemán auf, die Höhen des Ortes zu erreichen. Dies ist beileibe keine einfache Aufgabe, denn die Stadt, die Teil des Reiches Tartessos gewesen sein soll, wächst hier nun schon zwei Jahrtausende, wenn nicht noch länger vor sich hin. Gleichwohl: das Wachstum findet nur im Osten statt, denn das westliche Ende des Barrio Bajo formt der Guad-al-quivir, der hier dem Atlantik entgegenströmt.
Während das Barrio Bajo aus quirligen Straßen mit ebenso quirligen Einheimischen gefüllt ist (Touris gibt es zwar viele, sie fallen aber nicht sonderlich auf) ist das Barrio Alto voller alter Lagerhallen und Gebäude, denen man ansieht, dass sie dereinst eine gewichtige Rolle spielten, heute aber drohen, der Vergessenheit anheimzufallen.
Endlich angekommen, das Parkplatz suchen ist noch einmal ein Thema für sich, öffnet Núria eine der Türen eine dieser Hallen, mitten im Barrio Alto, dem Weinherzen des Ortes. Kein Schild erklärt, was sich dahinter verbirgt. Drinnen findet man, fein säuberlich gestapelt, alte, uralte Fässer, pechschwarz überzogen, damit Licht keinen Schaden anrichten kann. Oder aber auch deshalb, weil Licht Schaden angerichtet hat. So wirklich klar ist das nicht. Alle paar Jahre werden die Fässer mal geschrubbt, geschliffen und von den Kristallen befreit, die sich am Fassrand abgelagert haben. Denn nur so kann die salzige Luft ihre Arbeit tun. Und ohne diese salzige Luft wäre das alles nicht möglich.
Eigentlich spielt es keine Rolle, wann man durch die Gässlein des Barrio Alto schlendert, der salzhaltige Wind ist immer da, man nimmt ihn stärker wahr als im Barrio Bajo, wo die Luft dann schon etwas drückend daherkommen kann. Salz kommt vom Meer, und das Meer befindet sich im Westen. Und damit die Salzluft oder auch das Luftsalz, so klar ist auch das nicht, ihre Arbeit gewissenhaft erledigen kann, haben alle Bodegas Öffnungen, Fester ohne Glas, gen Westen, möglichst weit oben angebracht, um dem Schatteneffekt der Nachbargebäude weitestgehend zu entgehen. Denn so wirkt der Wind Tag und Nacht, Montag bis Sonntag, das ganze Jahr lang.
Und genau darin liegt der Unterschied zwischen einem Manzanilla de Sanlúcar de Barrameda und einem Fino aus Jerez de la Frontera begründet. Der Flor, die Hefeschicht, die sich auf dem Wein bildet, genießt hier exzellente Bedingungen. Anders als in Jerez, wo es im Sommer zu heiß und im Winter zu trocken ist, schützt die Hefe den Wein hier über das ganze Jahr. Genau deswegen sind die Manzanillas, sie gibt es nur aus Sanlúcar de Barrameda, leichter, eleganter, frischer als die etwas fetteren, meist etwas nussig daherkommenden Finos aus dem Nachbarort.
Um als Manzanilla auf den Markt zu kommen, muss der auf fünfzehn Volumenprozent aufgespritete Wein mindestens drei Jahre reifen; in der Nachbarweinregion Jerez-Xérès-Sherry hat man dieses Limit kürzlich, damit die omnipräsente Weinindustrie nicht übermäßig leiden muss, auf nur noch zwei Jahre abgesenkt. In Sanlúcar kann man darüber nur milde lächeln. Denn ein halbwegs ordentlicher Manzanilla reift sieben bis zehn Jahre in den Fässern, erst dann hat er die Komplexität erreicht, die ihn so einzigartig macht.
Natürlich verbleibt der Wein nicht die ganze Zeit in einem Fass, er durchläuft das Criadera-Solera-System, welches je nach Bodega vier bis über zehn Stufen umfasst. Nur aus der letzten, der Solera, wird der fertige Manzanilla entnommen, maximal ein Drittel, oftmals aber nur ein Sechstel des Inhalts. Dies wird aufgefüllt, mit Wein aus der ersten Criadera, solange, bis fünf Sechstel des Fasses, hier Botas genannt, voll sind. Ein Sechstel bleibt leer, damit die Hefe atmen kann und der Wein weiter reift. Die erste Criadera nascht von der zweiten, welche wiederum von der dritten gefüttert wird. Und so weiter, bis man an der letzten Criadera-Stufe angelangt ist, die dann mit frischem, angereichertem Wein aufgefüllt wird.
Für die Sanluqueñas und Sanluqueños ist ihr Manzanilla nicht etwa ein Getränk, es ist Teil ihres Lebens. Zwar gibt es in allen Bars und Restaurants in Flaschen abgefüllten Manzanilla, man trinkt aber oft einfach einen Manzanilla „en rama“, einen unfiltrierten Manzanilla. Auch wenn die eine oder andere Bodega Manzanilla en rama abfüllt (von Barbadillo etwa gibt es derer vier: einen im Frühjahr, einen im Sommer, einen im Herbst und einen im Winter), wird doch der Großteil der Produktion lose verkauft: an Konsumenten vor Ort, die mit ihren Kanistern, Glasballons oder Plastikflaschen kommen, um sich die Tages oder Wochenration abzuholen, vor allem aber an Bars und Restaurants, die den en rama dann in Holzfässer füllen und direkt zapfen. Wenn man nicht aufpasst und rechtzeitig schreit, bekommt man ihn schon einmal in einer Art Teeglas serviert.
Auch wenn Barbadillo so klein nicht ist, die wirkliche Sherry-Industrie ist in Jerez und in El Puerto de Santa María beheimatet. Dort sind die Rebflächen größer, die Hallen gigantischer, die Verkaufszahlen spektakulär. Gut, letzteres ist Teil der Geschichte, denn in der D.O. Jerez-Xérès-Sherry gehen die Umsätze seit Jahren zurück. Viele Bodegas wurden verkauft, zusammengewürfelt, sonstwie fusioniert. Geld verdienen mit Sherry ist so einfach nicht. Auch vor Sanlúcar machte dieser Prozess nicht halt. Pérez Marín, deren Manzanilla heißt La Guita, wurde schon vor Jahren an die Gruppe Estevez (unter anderem Valdespino) verkauft, diverse andere Bodegas folgten.
In der Regel bleiben die Manzanilla-Macher aus Sanlúcar indes unter sich, nur selten wird ein aufgegebener Keller an eine Bodega aus Jerez oder aus El Puerto verkauft. So wird zumindest ein Teil der Geschichte bewahrt, denn die aufkaufenden Bodegas setzen die Tradition der gekauften Bodega normalerweise fort. Meistens scheitern die Kellereien ja nicht aufgrund mangelnder Qualität, sondern weil es entweder an Erben oder an Geld mangelt. Anders könnten auch kaum neue Projekte entstehen, denn eine typische Solera hat schon mehr als fünfzig Winter gesehen, manche sind mehr als einhundert Jahre alt.
Diverse neuere Projekte sind so entstanden, etwa Bodegas Juan Piñeiro, die es erst seit gut zwei Jahrzehnten gibt. Die dazugehörigen Keller mit ihren Botas hingegen sind wesentlich älter. Das schillerndste und auch tragischste Beispiel dieser Verkettungen war Bodegas Rodeo Romero, beheimatet im Barrio Bajo, dort, wo auch Argüeso, La Cigarrera und andere Kellereien zuhause sind. Die eigene Marke, Aurora, gab es schon lange, immer als Manzanilla, aber auch als trockener, konchentrockener Amontillado und Oloroso. Dann wurde die in Konkurs gegangene Bodega Méndez integriert und deutlich später Gaspar Florido, die wohl beste Bodega des Ortes: der 25-GF war ohne jeden Zweifel einer der drei besten Produkte, die Sanlúcar in den letzten einhundert Jahren gesehen hatte. Nur: die Erben hatten keine Lust auf den Knochenjob, die Bodega wurde verkauft. Leider übernahm sich die Kellerei Pedro Romero mit dieser Operation. Die Verkäufe reichten nicht, um die Millionenschulden zu bedienen. Der Chef, ein angesehener Notar aus Jerez, beendete sein Leben mit einem Schuss, die Bodega wurde aufgeteilt. Fast alles blieb in Sanlúcar.
Die vielleicht wichtigste Neuerung leitet ein Großhändler aus Sanlúcar de Barrameda: Francisco „Paco“ Yuste. Im Jahr neunzehnhundert einundneunzig kaufte er eine damals bereits seit Jahren geschlossene Bodega, Santa Ana, natürlich mitsamt bestens gepflegten Botas. Als er ein Jahrzehnt später die Möglichkeit hatte, Bodegas Los Ángeles im Barrio Alto zu erwerben, schlug er erneut zu. Mit Bodega Miraflores, dem aktuellen Stammhaus der Bodega Yuste, gesellte sich neun Jahr später eine dritte Bodega hinzu. Und dann kam die Pleite von Pedro Romero. Paco erwarb einen Teil der Botas, der andere Teil ging an Piñeiro, aber auch den Markennamen Aurora, eine von Pedro Romero bestens eingeführte und gepflegte Produktlinie trockener Manzanillas, Amontillados, Palo Cortados und Olorosos. Die beste Entscheidung war, die Botas vom Barrio Bajo ins Barrio Alto, gen Los Ángeles, zu verlagern. Mehr Fenster gen Meer, mehr Wind, mehr Salz, mehr Futter für die Hefen. Amontillados und Olorosos können oben und unten gleich gut reifen, denn da ist die Hefe ja entweder abgestorben oder von Anfang an gar nicht vorhanden.
Und dann kam Argüeso! Herederos de Argüeso ist eine der bekanntesten Kellereien aus Sanlúcar de Barrameda, gegründet vor fast genau zweihundert Jahren. Im dritten Drittel des letzten Jahrhunderts ging es dieser Firma nicht wirklich gut, sie wurde zweimal verkauft, zuletzt an eine Immobilienfirma aus Cádiz. Diese aber war an Manzanilla überhaupt nicht interessiert, ihr ging es einzig darum, über die zwei riesengroßen, mitten im Zentrum gelegenen Komplexe zu verfügen, sie bei Gelegenheit abzureißen und durch neue Immobilien zu ersetzen. Allein: der Deal ging nicht auf, da die alten Bodegas inzwischen unter einer Art Denkmalschutz stehen. Schlagartig verlor man das Interesse an dieser Bodega. Paco kam, sah und kaufte. Langsam, ganz langsam, beginnt Argüeso, sich wieder frei zu schwimmen. Der Stil der Manzanillas indes ist gleich geblieben: Manzanilla Don León war schon immer etwas fetter als andere Manzanillas aus Sanlúcar de Barrameda.
Im Großen und Ganzen hat sich Sanlúcar so schlecht nicht geschlagen, inhabergeführte Kellereien sind dann halt doch etwas anderes als großkopferte Großbodegas.
Und solange der Wind vom Meer kommend in die offenen Fenster der Bodegas weht und das Salz des Atlantik in die Botas aus Sanlúcar trägt, so lange wird sich daran auch nichts ändern. Text: El oso alemán