Rioja
Als das spanische Bordeaux wird sie bezeichnet, und in der Tat gibt es in der Weinwelt wenige Gebiete, die international derartige Bekanntheit und Renommee erlangt haben. Die Spanier selbst würdigen diesen Umstand, indem es der Rioja als eines von zwei Gebieten im Land gestattet ist, den Status einer DOCa zu tragen, einer Denominación de Origen Calificada, der höchstmöglichen Klassifizierung im spanischen Weinbau. Aber noch aus einem anderen Grund nennt man Rioja und Bordeaux oft in einem Atemzug: als die Reblaus-Katastrophe Ende des 19. Jahrhunderts über Spanien kam, blieb die Rioja davon größtenteils verschont. Und konnte in den Folgejahren nach Frankreich exportieren, dessen Weinbau komplett darnieder lag. Hatten viele Spanier das Winzerhandwerk im Bordeaux gelernt, waren es jetzt die Weinbauern von dort, die nach der Vernichtung ihrer Existenz der Heimat den Rücken kehrten und sich im Norden Spaniens niederließen. Was sie mitbrachten, war die wohl weltweit beste Expertise in Kellertechnik der damaligen Zeit, die sich die Einheimischen schnell selbst aneigneten.
Im Detail
Rioja
Zunächst verwendete man Holzgebinde in allen möglichen Größen. Heutzutage lagern in den Kellern der Rioja über eine Million Barrique-Eichenfässer, die traditionell jeweils 225 Liter fassen - Weltrekord für ein Weinbaugebiet. Die Lagerung in ihnen verleiht den Weinen neben einer komplexeren Aromatik ein gigantisches Reifepotential. Was die Spanier von den Franzosen außerdem lernten, war die Technik der Vermarktung. Zwar hatten die findigen Mönche der hier beheimateten Klöster schon ab dem 16. Jahrhundert damit begonnen, die für den Export in die süd- und mittelamerikanischen Kolonien bestimmten Fässer mit auf ihre Heimatregion verweisenden Brandzeichen zu versehen. Gleichzeitig sorgten sie durch Versorgung der aus allen Teilen Europas herbeiströmenden Pilger auf dem nahegelegenen Camino de Santiago für die Bekanntheit ihrer Produkte. Doch der edle Nimbus, der den tiefroten Tropfen heutzutage umgibt, ist letztlich den genialen Marketingtechniken zu verdanken, die auch das Bordelais groß gemacht haben. Technische Entwicklungen wie der Bau einer Eisenbahn nach Bilbao und darüber zum weltweit wichtigsten Rotwein-Handelsplatz in Bordeaux oder die Elektrifizierung des Ortes Haro fast zeitgleich mit London und Paris sorgten für einen gigantischen Entwicklungsschub. Das ging etwa 50 Jahre lang so, bis die Rioja wie fast der gesamte spanische Weinbau unter General Franco in einen Dornröschenschlaf fiel, der bis in die 70er Jahre andauern sollte. Dann aber war das Comeback umso eindrucksvoller: Rioja wurde zum Synonym für spanischen Rotwein schlechthin. In Deutschland würde kaum jemand auf die Idee kommen, einen Württemberger oder Frankenwein zu verlangen. Beim Rioja ist das anders. Wer ihn bestellt, kann sich wie sonst wohl nur bei der Order eines Champagners sehr sicher sein, was man ihm einschenken wird - und das ist gar nicht so selbstverständlich, denn in diesem beschaulichen Flusstal wachsen deutlich mehr als nur eine Handvoll Rebsorten.
65 000 Hektar sind hier dem Weinbau vorbehalten, in Relation zu Gesamtspanien mit einer Million Hektar erscheint das nicht besonders viel. Tatsächlich hat die Rioja die optimale Größe, um zwar eine weltweite Nachfrage generieren und bedienen zu können, gleichzeitig aber nicht der Versuchung qualitativ minderwertiger Massenproduktion zu verfallen, wie es ihr Mutterland tat und teilweise immer noch tut. Der Star unter den Rebsorten der Rioja ist natürlich der Tempranillo. In den Cuvees nimmt er den größten Anteil für sich in Anspruch, der Rest entfällt auf Garnacha, Graciano und Mazuelo. Zwar weisen fast alle „klassischen“ Rioja-Rotweine den typische duftigen Tempranillo-Geschmack nach Waldbeeren, Tabak und Gewürzen auf, doch ist die Intensität in hohem Maße von der Reifezeit abhängig. Diese teilt sich auf in eine kürzere Fass- und eine längere Flaschenreife auf. Zwischen einem nur kurz gereiften Joven- oder Crianza-Wein, der für den Konsum innerhalb von fünf Jahren gedacht ist, und den Gran Reservas, die jahrzehntelang gelagert werden können und erst dann ihr gesamtes Potential entfalten, liegen Welten. Eine Glaubensfrage ist die Entscheidung zwischen Fässern aus französischem oder amerikanischem Eichenholz. Ersteres hat den Vorteil der Feinporigkeit, was für weniger Luftzufuhr und somit zurückhaltendere, elegantere Weine sorgt, während letzteres durch seine gröberen Poren mehr Sauerstoff an den Wein lässt, wodurch er eine intensivere Stilistik gewinnt. Der Lebenszyklus der Fässer ist allerdings in beiden Fällen recht kurz und liegt bei fünf bis maximal zehn Jahren. Danach gibt das Holz keine der geschätzten Vanillin-Komponenten mehr an den Wein ab.
Größer als im Rest Spaniens ist in der Rioja die Dominanz roter Trauben, mehr als drei Viertel der Fläche sind mit ihnen bestockt. Was im Umkehrschluss aber heißt, dass es durchaus auch Weißweine von hier gibt. Beliebt ist der Viura, in Deutschland besser als Macabeo bekannt, für die Herstellung von Schaumweinen, den Espumosos. Und tatsächlich gibt es auch eine weiße Version des Tempranillo, eine natürliche Mutation, die man in den 80er Jahren zufällig entdeckte und die nirgendwo sonst auf der Welt existiert. Ein großer Trend, der in den 90ern begann und seit 2017 auch von offizieller Seite gestattet wurde, ist die Vermarktung der Weine nach Einzellagen. In Ländern wie Deutschland seit jeher üblich, ist der Vino de Pago in Spanien ein ziemliches Novum, da er durch den weit verbreiteten Verschnitt verschiedener Rebsorten auch lange nicht wirklich sinnvoll oder praktikabel erschien.
Obwohl die Rioja eine vergleichsweise kleine Region ist, präsentieren sich sowohl die klimatischen als auch die geologischen Verhältnisse sehr variantenreich. Sowohl der nördlich gelegene Atlantik als auch das Mittelmeer im Osten üben ihren Einfluss aus und erzeugen ein animierendes Spannungsfeld zwischen ozeanischem und mediterranem Klima. Der Ebro als die Lebensader der Region tut sein Übriges und erweist sich besonders dort als wertvoll, wo Niederschlage seltener sind und die Winzer ihn zur Bewässerung der Reben nutzen. Eigentlich müsste er Namensgeber dieses Landstrichs sein, doch diese Ehre gebührt dem gerade einmal 65 Kilometer langen Rio Oja, dem Nebenfluss eines Nebenflusses des Ebro. Von dessen Ufer mit seinen nährstoffreichen Schwemmböden ziehen sich die Anbauflächen über sanft ansteigende Hänge aus eisenhaltigem Lehm bis 40 Kilometer weit ins höhergelegene Hinterland mit seinen Böden aus stark kalkhaltigem Ton hinein.
Will man Weinbau und Winzerleben in all seiner Urtümlichkeit bestaunen, bieten sich unter den insgesamt 144 der Rioja DOCa zugehörigen Gemeinden eine Vielzahl charmanter Dörfer an. Das bekannteste unter ihnen ist wahrscheinlich Haro ganz im Westen - von hier sind es ziemlich genau hundert Kilometer bis zum östlichen Ende in Alfaro. In Haro findet alljährlich die „Batalla del vino“ statt, die Weinschlacht, bei der sich nach dem Besuch einer katholischen Messe zwei weiß gekleidete Gruppen gegenseitig mit Unmengen an Rotwein bespritzen und begießen. Ursprünglich aus Anlass einer Grenzstreitigkeit mit dem Nachbarort entstanden, ist die Schlacht heute ein folkloristisches Großereignis, das mit einem festlichen Essen auf dem Hauptplatz Haros ausklingt. Man kann das heutzutage vor dem Hintergrund der Debatte um Lebensmittelverschwendung verwerflich finden, für die Einheimischen ist Brauchtum dieser Art jedoch nicht verhandelbar. Die Rioja Alta, in der wir uns hier befinden, ist das größte und traditionsreichste der drei Gebiete, in welche man die Rioja unterteilt. Die ältesten Bodegas finden sich hier, viele seit etlichen Generationen in Familienbesitz. Und auch die hiesigen Weine werden als die besten betrachtet, die man in der ganzen Rioja findet. Das hängt mit der durch das kühle atlantische Klima verursachten Dickschaligkeit der Trauben zusammen. Diese wiederum bringt es mit sich, dass mehr Phenole - besonders Tannine -, Säuren und Farbstoffe in den Most gelangen, was eine längere Reife und ein vielschichtiges, ganz und gar einzigartiges Endprodukt begünstigt.
Während Haro noch das eher urtümliche Weindorf ist, geht es in Logroño, der Hauptstadt der Autonomen Region La Rioja, deutlich geschäftiger zu - der Jakobsweg verläuft mitten hindurch. Der Weinbau spielt auch hier eine große Rolle, allerdings eher die damit verbundenen Handels- und Verwaltungstätigkeiten. Besonders lohnenswert ist die Kombination eines schönen Glases Wein mit den hier in fast jeder Gastwirtschaft angebotenen Pinchos - kleinen appetitanregenden Häppchen, den bekannteren Tapas nicht unähnlich, aber auf kleinen Holzspießen serviert, die man sich selbst zusammenstellt. Überhaupt ist die Rioja Oriental oder Rioja Baja, wie der östliche Teil der Region noch bis vor Kurzem genannt wurde, ein Paradies für Feinschmecker. Nur marginal kleiner als die Rioja Alta unterscheidet es sich landschaftlich wie klimatisch deutlich von dieser: sehr flach ist das Land hier, und Winde vom Mittelmeer sorgen für wärmere und trockenere Wetterlagen. Das lässt die Weine zu dankbaren Speisenbegleitern werden, gefälliger, runder und weicher, aber auch alkoholischer. Sogar Rosés findet man hier hin und wieder, für Freunde restsüßer Weine der einzige Lichtblick, denn ansonsten baut man in der Rioja kompromisslos trocken aus.
Der kleinste Bereich schließlich ist Rioja Alavesa, ein 300 Quadratkilometer großes, recht hoch gelegenes Gebiet nördlich des Ebro, das politisch gesehen schon zum Baskenland gehört. Wem die Weine aus der Rioja Alta zu schwer sind, der findet hier im kantabrischen Gebirge eine Alternative - die Weine sind deutlich fruchtiger und nicht so schwer. Überhaupt ist dies ein Stil, der in den vergangenen Jahren immer mehr nachgefragt wird und dem traditionellen, voluminösen Rioja mit seinem balsamischen Aroma und den erdigen, ledrigen Nuancen den Rang abzulaufen droht. Ein Vergleich zwischen dieser Oldschool-Variante, die erst nach recht langer Zeit auf den Markt gebracht wird und dann schon eine eher bräunliche Färbung aufweist, mit den stark extrahierten und daher hochkonzentriert samtig-dunkelbeerigen, modernen Varianten ist in jedem Fall lohnenswert. Sehr genau hat man hier den rasanten Aufstieg der nahegelegenen Ribera del Duero beobachtet, die ebenfalls hervorragende Tempranillos keltert. Was man jemandem entgegenzusetzen hat, der qualitativ ebenbürtig ist? - Qualität kombiniert mit Rarität. Die Alavesa ist unter Liebhabern und Sammelwütigen vor allem für ihre „vinos de autor" bekannt. Autorenweine werden vor allem von sehr kleinen, relativ jungen Weingütern erzeugt und erreichen aufgrund ihrer stark limitierten Auflagen regelmäßig Spitzenpreise.
Die Traditionsweingüter wissen auf andere Weise auf sich aufmerksam zu machen. Viele Bodegas haben sich selbstbewusst architektonische Denkmäler setzen lassen, welche die Rioja auch für nicht-vinophile Touristen zu einem Erlebnis macht: ob Santiago Calatravas Arbeit für die Bodegas Ysios in Languardia, dessen Wirtschaftsgebäude sich sanft geschwungen den Hügelketten der Umgebung anpassen, oder das Hotel der Kellerei Marqués de Riscal, dessen Dach von Frank O. Gehry wie verworrenes Geschenkband gestaltet wurde. In seiner Farbwahl griff er das Produktdesign seines Auftraggebers auf: rosa wie der Schimmer des Weines, silbern wie die Flaschenkapseln und golden wie das die Flasche umgebende filigrane Drahtgeflecht. Gerüchten zufolge gewann man den eigentlich lieber an großstädtischen Bauten planenden Gehry mit zwei Flaschen seines Geburtsjahrgangs 1929 für das Projekt. Infolgedessen kam der kleine Ort Elciego in den Genuss des Bilbao-Effekts, jenes nach dem ebenfalls von Gehry im baskischen Bilbao erbauten Guggenheim-Museum benannten Phänomens, das die gezielte Aufwertung ländlicher, touristisch eher uninteressanter Orte durch spektakuläre Architektur beschreibt.
Obwohl es hier keineswegs uninteressant ist. Eingebettet zwischen den Keimzellen des früheren spanischen Weltreiches, Kastilien-Leon und Navarra-Aragon, ist es eine unglaublich geschichtsträchtige Region, die zudem touristisch sehr gut erschlossen ist, ohne wirklich touristisch zu sein. Darüber hinaus traditionsreich, ohne verstaubt zu sein. Und natürlich weintechnisch Weltklasse, ohne arrogant zu sein. Und damit eine Region, an der früher oder später kein Weinkenner vorbeikommt.