Jura
Nein, hier geht es nicht um Rechtswissenschaften. Dass man Jura, den Namen dieses Weinbaugebietes, wohl nicht so präsent hat wie Loire, Bordelais oder Rhone, ist aber erstmal ganz natürlich, denn es handelt sich hier um eine der kleinsten Rebenzucht betreibenden Regionen Frankreichs. Gerade einmal knapp 2000 Hektar sind hier bestockt, ein verschwindend geringer Teil in Anbetracht der 800 000 Hektar, die das Land insgesamt auf sich vereinigt. Eines der kleinsten Weinbaugebiete der Grande Nation, eine Rebfläche gerade mal so groß wie die Insel Langeoog, unterboten nur noch vom winzigen Lothringen. Und doch hat der Landstrich es geschafft, sich immer wieder gegen die großen Nachbarn zu behaupten. Wie war das möglich? Schließlich liegt das Jura ziemlich an der Peripherie, dem schweizerischen Genf geografisch näher als der nächsten großen französischen Stadt Lyon. Doch diese Randlage am Fuße der Alpen hält für den Weinbau wahrscheinlich mehr Vor- als Nachteile bereit.
Im Detail
Jura
Aber der Reihe nach. Bei allen Unterschieden hat das Jura eines mit den anderen französischen Weinbaugebieten gemein: am Anfang stehen die Römer. Kurz vor Christi Geburt muss es gewesen sein, als sie hier Weinberge anlegten, um für die Versorgung der Truppen nicht auf Importe aus Italien angewiesen zu sein. Caesar selbst hatte die Region unterworfen, und der Legende zufolge soll auch der Befehl zur Anpflanzung der ersten Rebstöcke von ihm gekommen sein. Bereits zu dieser Zeit brachte es der jurassische Wein zu einer ersten überregionalen Bekanntheit: aufgrund der ebenfalls in der Region liegenden Salzvorräte bildete sich schnell ein Handelsnetz heraus, mit dessen Hilfe nicht nur das Salz, sondern auch der Wein weite Strecken zurücklegte. Wie fast überall in Europa fiel aber auch im Jura der Weinbau durch den Untergang des Römischen Reiches in ein tiefes Loch. Einige Jahrhunderte dauerte es, bis zunächst christliche Klöster, später auch reiche Adlige ihn wieder ausgiebig förderten. Dass im Mittelalter die Burgunder mit ihren Unmengen an Geld und besten Verbindungen in alle Winkel Europas hier herrschten, zahlte rasch auf das Bekanntheitskonto der Weine ein. Auf 20 000 Hektar wuchs die Anbaufläche im Laufe der Jahrhunderte an, bis… ja, bis eine ganze Reihe unglücklicher Umstände dafür sorgte, dass die Region für lange Zeit aus dem kollektiven Feinschmecker-Gedächtnis verschwand. Zunächst schlug die Reblausplage voll durch und vernichtete einen Großteil der Weinberge - das war freilich in anderen Landstrichen auch der Fall und wäre allein kein Grund, warum das Jura sich nicht wieder hätte berappeln sollen. Etwa zeitgleich hatte jedoch auch der Siegeszug der Eisenbahn begonnen - und während überall in Frankreich schnelle Verbindungen in die Hauptstadt entstanden, blieb man im Jura verkehrstechnisch auf einem vorindustriellen Stand. Vor allem der Süden des Landes gehörte zu den Gewinnern - die fülligen, alkoholischen Weine von der Rhone und besonders aus Languedoc-Roussillon setzten sich durch, zumal sie deutlich billiger zu produzieren waren. Für das Jura fielen damit viele einstige Absatzmärkte weg, der Ruhm vergangener Zeiten war dahin.
Auch deshalb sind von den einst über 40 hier kultivierten autochthonen Rebsorten nur ein paar wenige geblieben. Retten konnten sich etwa die beiden roten Trauben Trousseau und Poulsard - ersterer präsentiert sich säurearm, mit pfeffrig-kräuterigem Geschmack und in kräftigem Rot, während letzterer blass wie ein Rosé daherkommt, dafür aber mit einem sehr fruchtig-duftigen Bukett und hoher Süffigkeit aufwartet. Faktisch gleicht also einer die Schwächen des anderen aus, was dafür sorgt, dass sie selten reinsortig vermarket werden, sondern im Verschnitt miteinander brillieren. Ergänzt wird das Portfolio um den ob seiner geringen Erträge mittlerweile vom Aussterben bedrohten Béclan, bekannt für seine helle Farbe und den eher moderaten Gehalt an Gerbstoffen und Alkohol. Doch seine Berühmtheit zieht das Jura nicht hauptsächlich aus den roten, die gerade einmal ein Fünftel des Gesamtertrags ausmachen, sondern aus den weißen Reben - die meist sogar deutlich kräftiger in Aromatik und Alkohol sind als Trousseau und Co. und bei Verkostungen vor diesen serviert werden. Besonders der Savagnin, im Deutschen besser bekannt als Traminer, gilt als Aushängeschild. Seine Ursprünge liegen weitgehend im Dunkeln, klar ist nur, dass er unglaublich alt ist - als europäische Urrebsorte Stammvater etlicher Trauben wie des Grünen Veltliners, des Silvaners oder des Chenin Blanc. Als Rebe, die noch sehr nah mit Wildem Wein verwandt ist, merkt man ihm durchaus ein gehöriges Maß Kratzbürstigkeit an - er gefällt ganz gewiss nicht jedem und gibt sich auch überhaupt nicht die Mühe, das zu tun.
Aus dem Savagnin keltert man die wohl bekannteste Spezialität der Region - den wahrhaft mysteriösen Vin Jaune. Nachdem der Most auf konventionelle Weise vergoren wurde, lässt man ihn mindestens sechs Jahre und drei Monate im Barriquefass reifen - oxidativ, also mit anfänglichem Sauerstoffkontakt. Im Laufe der Zeit bildet sich eine immer weiter anwachsende Schicht obenauf schwimmender Florhefe, die den Wein wie eine Art natürlicher Frischhaltefolie vor einem Umkippen in Essig bewahrt - im Jura wird sie poetisch „Voile“, Schleier, genannt. Wie so oft in der Weingeschichte soll auch das eher durch Zufall entstanden sein, als ein schludriger Winzer ein bestimmtes Fass für lange Zeit vergaß und bei der Wiederentdeckung dann ganz aus dem Häuschen über das unerwartete Resultat war - naja.
Währenddessen wandelt sich jedenfalls die anfangs eher grünliche Färbung des Weines langsam in ein tiefes Goldgelb, was dessen Namensgebung erklärt. Der „gelbe Wein“ ist danach quasi ewig haltbar - einige Winzer behaupten steif und fest, man könne einen Vin Jaune entkorken und monatelang offen stehen lassen, ohne dass die Qualität in irgendeiner Weise beeinträchtigt würde. Abgefüllt wird traditionellerweise in ein Clavelin, ein durchaus bemerkenswertes Flaschenformat, das nicht 0,7 oder 0,5 oder 0,375 Liter fasst, sondern 0,62. Für regulierungswütige Brüsseler Bürokraten ist diese absolute Verweigerung metrischer Maßeinheiten ein Graus, und so darf das Bestandsschutz genießende Format nur mit einer zähneknirschenden Ausnahmegenehmigung verkauft werden. Dabei ist die Füllmenge keine Willkür, sondern schlicht der Anteil von einem Liter, der nach der oft starken Temperaturschwankungen ausgesetzten Fasslagerung übrig bleibt, denn anders als bei anderen Weinen wird beim Vin Jaune nicht wieder aufgefüllt. Faktisch verdunsten durch das Holz hindurch - als sogenannter „Schluck der Engel“ - also fast 40 Prozent des Weines während der Reifezeit - mit ein Grund, warum der Wein preislich eher ein Tropfen für besondere Anlässe ist. Geschmacklich erinnert er, bedingt durch den oxidativen Ausbau, der beiden gemein ist, am ehesten an einen ausgezeichneten Sherry - ein ausgesprochen herb-nussiges, leicht salziges Aroma, ergänzt durch Noten von buttrigem Brioche, Pilzen, getrockneten Äpfeln und orientalischen Gewürzen. Als Teil der Spanischen Niederlande war man im Jura eine gewisse Zeit iberischen Einflüssen ausgesetzt, möglicherweise ein Grund dafür, warum sich die in diesem Teil Europas sonst sehr unübliche Art der Fassreife hier etabliert hat. Im Gegensatz zum Likörwein aus dem Süden Spaniens wird der Vin Jaune jedoch nicht während der Gärung aufgespritet, sondern gärt komplett durch und kommt infolgedessen am Ende stets knochentrocken daher. Wer es geschmacklich nicht ganz so extrem mag, der ist gut beraten, auf Etiketten nach dem Hinweis „non ouillé“ zu schauen, der besagt, dass der Wein eine deutlich kürzere Zeit oxidativ gereift ist als ein Vin Jaune und so nur zarte Anklänge an dessen geschmackliche Kompromisslosigkeit aufweist.
All diese gerade beschriebenen Verfahren - alkoholische Gärung, Fassreife, Oxidation und so weiter - sind natürlich nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer sehr langen Folge nach dem Prinzip von Try and Error. Irgendwann hatten die Winzer den Dreh halt raus - freilich ohne zu verstehen, was dort auf chemischer Ebene wirklich vor sich ging: der Übergang von Traubensaft zu Wein hatte quasi den Nimbus eines Wunders. Das zu ändern, die Geheimnisse der Kellertechnik auf wissenschaftliche Weise zu ergründen, war die erklärte Mission des wohl bekanntesten Sohnes des Jura, Louis Pasteur. Der heutzutage vor allem für seine Beiträge zur Infektionsforschung bekannte Gerbersohn aus dem Örtchen Dole war felsenfest überzeugt, dass es sich bei Wein um das gesündeste und hygienischste aller Getränke handele. Und begann infolgedessen seine Karriere tatsächlich damit, bisher ungeklärte Probleme der Weinbereitung zu analysieren. In Arbois, dem Zentrum der Region, machte er zahlreiche bahnbrechende Entdeckungen: etwa, dass für die Gärung Mikroorganismen verantwortlich sind, während man zuvor davon ausgegangen war, dass die Entstehung von Alkohol abiotisch, also völlig ohne die Beteiligung irgendwelchen Lebens vonstatten ging. Und, was noch viel wichtiger war, dass ebensolche Mikroorganismen - seien es Hefen, Schimmelpilze oder Bakterien - auch dazu führen können, dass Wein spontan verdirbt. Das war damals ein derart großes Problem für die französische Weinwirtschaft, dass sogar Kaiser Napoleon III. sich der Angelegenheit annahm und von höchster Ebene herab die Wissenschaft mit der Suche nach Abhilfe beauftragte. Pasteur schlug vor, die Flüssigkeit auf 60 Grad zu erhitzen und anschließend in hermetisch versiegelten Gebinden aufzubewahren, damit keine neuen Organismen an die Stelle der zuvor abgetöteten treten können - er hatte nämlich auch herausgefunden, dass nicht allein die Flüssigkeit an sich, sondern ebenso die Luft mit Keimen belastet ist. Damit bewies er, dass eine luftdichte Verpackung die Lebensdauer vieler Nahrungsmittel deutlich eher verlängert als die bloße Kühlung derselben, die das Keimwachstum nur verlangsamt. Revolutionär! Das Verfahren der Pasteurisierung, das wir heute vor allem von Milch kennen, war also zuallererst für Wein gedacht. Viele Winzer verweigerten sich der neuen Technik zunächst jedoch: den teuren Wein aufs Feuer stellen wie eine Suppe!? In der Tat kann die Hitze sich negativ auf den Geschmack auswirken: ein sogenannter Kochton macht sich als Weinfehler bemerkbar. Außerdem werden neben unerwünschten auch nützliche Mikroorganismen zerstörrt. Heutzutage verzichtet man deshalb zumindest bei höherwertigen Weinen weitgehend darauf und verlässt sich stattdessen auf penible Kellerhygiene und alternative Verfahren mit Sulfiten oder Edelgasen.
So unbestritten genial die Leistungen Pasteurs gewesen sein mögen, den Absatz des Weines aus seiner Heimat werden sie nicht befördert haben. Und in der Tat haben wir ja immer noch nicht die Frage geklärt, wie man sich vom harten Abstieg gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder erholt hat. Dafür müssen wir den Blick auf einen weiteren Sohn der Region richten, auf Henri Maire. Im Jahr 1939 war der findige Mann zu zweieinhalb Hektar Weinbergen im Jura gekommen, die er direkt nach Kriegsende unter seine Fittiche nahm. Nach und nach kaufte er sich fast 50 Hektar zusammen, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen: Jura-Weine endlich zurück in der Haute Cuisine! Insbesondere sein Vin Fou, zu deutsch verrückter Wein, lag ihm am Herzen und wurde später sein größter Verkaufsschlager - er war nichts anderes als ein klassischer Vin Jaune. Bei der Vermarktung kam ihm sehr zupass, dass er seine Jugend in Paris verbracht hatte und dort nach wie vor über zahlreiche Kontakte verfügte. Schon bald führten viele gastronomische Spitzenbetriebe der Hauptstadt wieder die alte Perle des Jura auf ihren Weinkarten, die sich als optimaler Begleiter zahlreicher, vor allem herzhafter Speisen erwies und es noch heute tut - auch wenn sie sicher nie den Massengeschmack bedienen wird.
Neben dieser unermüdlichen Lobbyarbeit von Maire, dessen Betrieb heute der absolute Platzhirsch der Region ist und bei der Hälfte der Gesamtproduktion irgendwie seine Finger im Spiel hat, gibt es aber einen weiteren Aspekt, der das Revival der Region unterstütze. Denn durch die lange Randlage am Weinmarkt hatten sich im verschlafenen Jura viele neue Techniken, viel moderne Technologie nicht durchgesetzt - man blieb in Weinberg und Keller bei einem naturnahen, althergebrachten Arbeiten und erzeugte so weiterhin individualistische Tropfen mit Ecken und Kanten, während im Rest der Welt die Weine durch die fortschreitende Maschinisierung immer austauschbarer wurden und viele lokale Traditionen einen leisen Tod starben. Bio war man im Jura auf eine gewisse Weise immer schon, musste also auf keinen Öko-Zug aufspringen. Auch auf eine konservierende Schwefelung konnte und kann dank der langen Zeiten im Barrique meist verzichtet werden. Und als dann auch die Suche nach Charakterweinen als Alternative zu den glattgezogenen, immer gleichen Standardtropfen zum Trend wurde, Weineinkäufer gleich Trüffelschweinen ausschwärmten auf der Jagd nach eigenwilligen Gaumenkitzlern, da hatte die Stunde des Jura geschlagen. Während „Tradition“ von vielen anderen gern als Marketing-Feigenblatt genutzt wird, um ganz und gar nicht traditionell hergestellte Produkte an den Mann zu bringen, kann man sich hier darauf verlassen, quasi den Inbegriff von Tradition im Glas zu haben - mag die Welt sich noch so sehr verändern, im Jura bleibt alles beim Alten.
Ein guter Jura-Wein entsteht jedoch nicht erst im Keller, sondern ist das Resultat eines ganz besonderen Terroirs. Obwohl der Streifen, der sich in Nord-Süd-Richtung von Champagne-sur-Loue nach Saint-Amour zieht, gerade mal 80 Kilometer lang und 10 Kilometer breit ist, herrscht eine unglaubliche hohe Bodenvielfalt vor. Der Hauptanteil entfällt zwar stets auf Kalk - schließlich ist Jura nicht nur ein Departement, sondern auch ein Gebirgszug -, das hat man mit dem nördlich gelegenen Burgund gemein. Durch die sehr aktive Tektonik haben sich haben sich im Jura aber auch Lehm, Kies und vor allem Tonmergel an die Oberfläche geschoben - ein mineralienreiches und sehr dichtes Feinsediment, das je nach Alter blaugrau oder schwarz daherkommen kann. Vor allem er sorgt dafür, dass die Weine hier ganz anders geraten als etwa an der nahe gelegenen Côte d’Or: weniger fein und intellektuell, dafür ein bisschen Haudrauf - ehrlicher, kerniger und auf eine herzergreifende Weise bäuerlich. Einheitlicher als die Böden ist das Klima: ausgesprochen kontinental präsentiert es sich, mit frostigen Wintern und recht unsteten, regenreichen Sommern. Allein im Osten, wo vom nahen Genfersee schon eine milde Brise herüberweht, haben die Rebstöcke es etwas angenehmer. Die meisten Weinberge liegen in hügeliger, aber sehr moderater Höhe zwischen 250 und 450 Metern und in südwestlicher Ausrichtung - dort können sie nicht nur von der Mittags- und Nachmittags-, sondern auch noch von der Abendsonne beschienen werden. Und das müssen sie oft auch, um überhaupt voll auszureifen bis zur ohnehin schon sehr späten Lese im Oktober oder sogar Anfang November. Waren die klimatischen Verhältnisse mit ihren Spätfrösten und vielen Niederschlägen in früheren Jahrzehnten ein echtes Problem, so erweisen sie sich in Zeiten stetig steigender Temperaturen als echter Segen.
Die relative Kühle kommt vor allem dem Chardonnay zugute, der als Stillwein ebenso brilliert wie als schäumender Cremant du Jura. Diese bestechen, anders als ihre Verwandten im Elsass oder an der Loire, nicht unbedingt mit Frucht, sondern in erster Linie mit sehr präsenter Säure und ansonsten reduktiver Geradlinigkeit. Sie können ein perfekter Auftakt zu einem klassisch jurassischen Menü sein, denn wie jede französische Region hat auch die Franche-Comté, in deren Süden wir uns hier befinden, ihr ganz eigenes kulinarisches Erbe. Für den Hauptgang als gesetzt gilt hier auf jeden Fall Bressehuhn aus der gleichnamigen, westlich des Jura liegenden Landschaft. Die Tiere mit den markanten blauen Beinen werden ausschließlich im Ganzen verkauft und bestechen mit ihrem fast weißen, von kleinen Fettadern durchzogenen Fleisch, das herrlich mürbe auf der Zunge zergeht. Besonders gut zu Gesicht steht ihm die Kombination mit einer cremigen Sahnesoße aus Morcheln, Schalotten und Vin Jaune. Beschlossen wird die Mahlzeit am besten mit einem Stück Comté - der schon seit dem Mittelalter hergestellte und heute landesweit beliebteste Käse stammt von Kühen, die sich ausschließlich von den Wiesen des Jura ernähren. Je nach Lage der Weide und Jahreszeit, in der die Tiere gemolken werden, kommen ganz unterschiedliche Aromen zum Vorschein: von pikant-würzigen über milchig-cremige und grasige bis hin zu fruchtigen Nuancen kann alles dabei sein. Früher galt er als essenzielles Nahrungsmittel der Landbevölkerung in den langen und strengen Wintern der Region, und auch heute noch liebt man ihn als Grundlage eines Magen und Seele wärmenden Fondues - nicht umsonst ist er eng mit dem schweizerischen Gruyère verwandt. Und wer zum Abschluss eines guten Essens ein Faible für Süßes hat, wird im Jura auch bestens bedient. Zum einen mit dem Vin de Paille, zu deutsch Strohwein. Diese Art der Weinerzeugung, bei der die Trauben vor der Pressung sechs Wochen lang auf Strohmatten angetrocknet werden und durch die allmähliche Verdunstung des Wasser ihren Zuckergehalt steigern, kennt man auch aus anderen Ländern, etwa als Grundlage des italienischen Amarone. Der Most lagert anschließend noch einige Jahre in Eichenfässern, was ihm Noten von Honig, Nüssen, Orangenschale und Feigen verleiht. Die Alternative kommt noch eine Spur kräftiger daher - der Macvin du Jura ist ein Likör, der durch die Kombination aus zwei Dritteln Traubenmost und einem Drittel Tresterbrand, dem sogenannten Marc, entsteht. Wird er dem Most beigegeben, stoppt die Gärung und ein hoher Zuckeranteil bleibt zurück - zusammen mit dem wunderbar klaren, geradezu dekadent süßen Traubengeschmack. Da der Macvin aus tendenziell jeder Rebsorte hergestellt werden kann, findet man ihn sowohl in der weißen Version als auch in rosé und rot. Auch hier ist wieder Fassreife im Spiel: zunächst für den Tresterbrand, dann später noch einmal für die Assemblage. Ein Drink-Erlebnis der besonderen Art ist dabei der Marcotton - für den Cocktail werden ein Teil Macvin mit vier Teilen jurassischem Cremant gemischt.
Mit einem solchen Gläschen in der Hand und dem Blick auf ein majestätisches Alpenpanorama könnte man manchmal denken, man sei in der Zeit um 200 oder 300 Jahre zurückversetzt worden in eine weit archaischere Welt als die heutige - zu bodenständig die Winzer, zu ungeschminkt die Weine, zu selbstgenügsam die Landschaft. Trends und Moden spielen keine Rolle. Stattdessen scheint hier alles irgendwie von Herzen zu kommen, für Freunde und Familie gemacht zu sein statt für hippe Großstadt-Bars und renditenfixierte Reben-Spekulanten. Vom höher, schneller, weiter anderer Weinbauregionen ist hier nichts zu spüren, man ist schlicht zufrieden mit dem, was die Natur jedes Jahr aufs Neue zu schenken bereit ist. Den Weltmarkt erobern? Mon Dieu! Nur etwa ein Achtel der Gesamtproduktion gehen überhaupt in den Export - man darf sich als Konsument also durchaus glücklich schätzen, einen der raren Tropfen zu ergattern. Umso mehr, weil die Weinlandschaft im Jura im Wandel begriffen ist. Denn die alten Rebsorten sind durchaus „bedroht“ - immer mehr dringen Pinot Noir und Chardonnay von Norden her vor. Sie sind - trotz markanter geschmacklicher Unterschiede zu den Stilen anderer Regionen - aufgrund ihrer weltweiten Bekanntheit besser zu vermarkten und haben sich neben Trousseau, Poulsard und Savagnin mittlerweile fest etabliert: fünf Reben, die einen ganz eigenen Kosmos bilden und vom Schäumer über Still- und Süßweine und Liköre bis zum Hochprozentigen alles zu bieten haben - auch, wenn Anhänger von Easy Drinking woanders wahrscheinlich besser aufgehoben sind.
Von Trauben wie Cinquien (Cinsault), Gueuche Blanc (Weißer Heunisch) oder Petit Meslier, die früher ganz selbstverständlich dazugehörten im Jura, findet sich heute hingegen keine Spur mehr. Schade eigentlich. Denn wenn die Jurassier schon aus einer Handvoll Sorten so viel herausholen, was dann erst aus den mehr als drei Dutzend, die es mal waren? Was uns da entgeht! Um Vergangenes zu trauern, lohnt sich jedoch nicht - zumindest dann nicht, wenn es noch immer zahlreiche Spezialitäten gibt, die ob ihrer Tiefgründigkeit zu allen Zeiten die Fantasie angeregt haben und eine unschätzbar wertvolle Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlagen. Und angesichts eines facettenreichen Vin Jaune, eines knackigen Cremant du Jura oder eines geschmeidigen Vin de Paille kann man guten Gewissens mit einem Satz Louis Pasteurs enden, der es ja schließlich wissen muss: „Es steckt mehr Philosophie in einer Flasche Wein als in allen Büchern dieser Welt.“