Rheinhessen
In kaum einem anderen Gebiet ist der Weinbau in der Fläche so präsent wie hier: aus 136 Gemeinden setzt Rheinhessen sich zusammen und nur drei davon betreiben keine Rebenzucht. Dass die sich hier so lohnt, hat mehrere Gründe. Zum einen macht es die Landschaft den Winzern leicht: das Gelände ist waldarm und meist flach bis sanft hügelig, Steillagen finden sich nur selten. Geschützt werden die knapp 27 000 Hektar durch Pfälzer Wald, Taunus und Hunsrück, gewärmt vor allem durch den rechterhand liegenden Rhein. Moment, wird sich der Geografiekundige denken. Ja, es stimmt - obwohl es „Rheinhessen“ heißt, liegt das Gebiet mitnichten in Hessen (dort liegt der Rheingau), sondern in Rheinland-Pfalz.
Im Detail
Rheinhessen
Südlich von dessen Landeshauptstadt Mainz beginnt er, der Bereich Nierstein, der eines der qualitativen Zentren Rheinhessens birgt. Das war auch schon früher so, daher gehörte dieses Filetstück von 2500 Hektar zu nicht geringen Teilen dem Kurfürstentum Mainz. Dass der Bereich nach diesem ganz in seinem Osten liegenden Örtchen Nierstein benannt wurde, ist kein Zufall: hier befindet sich nach aktuellem Stand der Forschung der älteste noch erhaltene Weinberg Deutschlands, der Glöck von 742. Und auch der berühmte Rote Hang liegt ganz in der Nähe. Dort finden sich auf nur fünf Kilometern Länge zahlreiche hochgeschätzte Steillagen wie Hipping, Pettenthal und Ölberg. Seinen Namen verdankt der Hang den durch Hämatit-Anteile rötlich schimmernden Sandstein- und Tonschichten des Rotliegend, der besonders Rieslingen eine Eleganz verleiht, die es durchaus mit der Konkurrenz aus dem Rheingau aufnehmen können, und das meist auch noch zu günstigeren Preisen - obwohl der Abstand in den letzten Jahren geschrumpft ist. Die enormen Kosten für Flurbereinigungen mussten irgendwie wieder eingespielt werden. Diese war nötig geworden, um den Weinbau an der Rheinfront überhaupt wirtschaftlich zu halten - immer wieder hatte Starkregen wertvollen Boden aus dem Hang gewaschen und unwiederbringlich in den Rhein gespült.
Wie in manch anderem Weinbaugebiet auch blickt man in Rheinhessen auf eine ehrwürdige Vergangenheit zurück - der „Rüssling" oder „Rissling“ erfuhr hier vor über 600 Jahren zum ersten Mal schriftliche Würdigung -, scheiterte in jüngerer Zeit aber an seinem eigenen Erfolg. Das prägnanteste Beispiel dafür können wir im Bereich Wonnegau mit seinen drei Weinhochburgen Alzey, Westhofen und Worms bestaunen. Nördlich der Wormser Altstadt, wo der Sage nach schon Siegfried und seine Nibelungen dem Rheinwein frönten, reckt die gotische Liebfrauenkirche ihre Türme gen Himmel. Noch heute ist sie von Weinbergen umgeben, die wohl schon Anfang des 19. Jahrhunderts den Weinhändler Valckenberg reizten, die im Zuge der napoleonischen Säkularisation zur Versteigerung stehende Fläche in seinen Besitz zu bringen. Das Terroir brachte nicht nur ein interessantes Setting mit sich, sondern auch eine geschmackliche Eigenschaft, die es weniger der Geologie als dem etwa hundert Jahre früher tobenden Pfälzischen Erbfolgekrieg verdankte: eine intensive Rauchnote infolge des zuhauf im Umfeld der Kirche aufgetürmten Schutts niedergebrannter Holzhäuser. Das brillante Marketing brachte Valckenberg Bestellungen aus ganz Europa bis hinauf zum britischen Königshaus ein - und viele Trittbrettfahrer, die es sich zunutze machten, dass die Bezeichnung „Liebfrauenmilch“ nicht geschützt war. Innerhalb weniger Jahrzehnte war der edle Name ruiniert: Anfang der 90er lief fast die Hälfte der 340 Millionen Flaschen Wein für den Export unter dem Namen Liebfrauenmilch, und auch wenn mittlerweile Dinge wie zulässige Rebsorten sowie Restzuckergehalt verbindlich geregelt sind und man sich in Deutschland selbst lange von ihrem Genuss verabschiedet hat, kann man die zu Spottpreisen angebotenen Flaschen noch häufig etwa in britischen oder russischen Supermarktregalen erspähen.
Diese Geschichte steht exemplarisch für eine Entwicklung, die äußerst fatale Folgen für Rheinhessen haben sollte und die bis heute nicht ganz überwunden ist. Den Anfang nahm das Unheil mit der Größe der hiesigen Weinberge, die sich international zwar im Durchschnitt bewegen, für deutsche Verhältnisse aber außerordentlich groß sind. So kam es, dass viele Winzer sich selbst Maschinen anschafften, Massenträger-Reben pflanzten und die charakterarmen Resultate dann über große Ketten an den Mann zu bringen oder gleich in den Export zu geben versuchten. Das fehlende Profil sorgte jedoch dafür, dass man die Preise immer weiter senken musste, um konkurrenzfähig zu bleiben. Am Ende hatte man finanziell nicht viel gewonnen, aber den Ruf einer ganzen Region geschädigt. Auch die Spitzenweingüter litten unter der leichten Verführbarkeit ihrer Kollegen hin zur Massenproduktion, erlagen dieser selbst aber zum Glück nicht. Angesichts der Tatsache, dass Rheinhessen als größtes deutsches Weinbaugebiet ein Viertel der Gesamtproduktion beisteuert, ist die Dichte an Top-Weinmachern, deren Tropfen sich entsprechend lange lagern lassen, noch immer vergleichsweise gering. Das wirtschaftliche Rückgrat bilden nicht selten die geschmacklich eher zurückhaltenden Grauburgunder, Müller-Thurgaus oder halbtrockene und liebliche Rieslinge.
Die 2002 gegründete Vereinigung „Message in a bottle“ vereint dabei abseits des elitären VDP die Winzer, die mit Handlese, Öko-Landwirtschaft und Co. an die Spitze wollen, „Maxime Herkunft Rheinhessen“ und „Wein vom Roten Hang e.V.“ leisten ähnlich wertvolle Arbeit nach innen wie nach außen. Dennoch: im breiten Mittelfeld mit vielen aufstrebenden Jungwinzern muss sich erst noch herauskristallisieren, wer sich hohen Ansprüchen verpflichten und wer lieber in der Easy-Drinking-Spur bleiben möchte. Die Argumente für Ersteres überwiegen dabei, denn auch wenn der Hype um ungeschwefelte Naturweine fast schon wieder ein wenig an Fahrt verloren hat, ist Pét Nat, also Perlwein ohne künstlich zugesetzte Kohlensäure ein Riesenthema, ja deutscher Schaumwein generell, und da sind einige rheinhessische Winzer vorn mit dabei, am besten noch auf Basis von Biodynamik. Hinzu kommen die aktuell beliebten Cuvées mit eher seltenen Rebsorten wie Gewürztraminer oder Auxerrois. Und auch etwas aus der Mode gekommene Schöpfungen des vergangenen Jahrhunderts dürfen ruhig gewürdigt werden, wenn sie denn gut gemacht sind. Schließlich stammen Huxel-, Faber-, Sieger- und Scheurebe aus Rheinhessen, wo sie vom Weinbau-Papst Georg Scheu an der Landesanstalt für Rebenzüchtung in Alzey ersonnen wurden.
Qualitätsoffensive und Avantgarde-Stellung sind das eine, Wiederentdeckung von Bewährtem und Traditionspflege das andere: da der Weintourismus in Rheinhessen anders als etwa an der Mosel oder in der Pfalz noch in den Kinderschuhen steckt, will man auf Besonderheiten aufmerksam machen. Die Trulli sind dabei sowas wie ein kleines Markenzeichen geworden: die archaisch anmutenden weißen Hütten kann man sich gut in Spanien oder Portugal vorstellen, in Orten wie Flörsheim-Dalsheim aber wirken sie seltsam exotisch. Eines der frühen Beispiele für Arbeitsmigration stellen sie dar, Lombarden errichteten sie im 18. Jahrhundert nach dem Vorbild apulischer Rundhäuser. Wahrscheinlich dienten sie als Schutz vor der Witterung, denn obwohl meist komplett ohne Mörtel erbaut, hält der massive Naturstein im Sommer die Wärme draußen und im Winter selbige drinnen. Will man das volle Programm Rheinhessen haben, genießt man seinen Wein vor einem solchen Trullo aus der altehrwürdigen Mainzer Stange, einem Schoppenglas, das mit 400 ml Fassungsvermögen einen hübschen Mittelweg zwischen dem derben Dubbe- und dem zierlichen Römerglas eröffnet. „Schobbestesche“, Schoppenstecher, nennen die Einheimischen augenzwinkernd denjenigen, der sich ein Glas nach dem anderen einverleibt.
Besonders anfällig soll man dafür in Bingen sein, wo Rheinhessen mit seinen Nachbargebieten Mittelrhein, Nahe und Rheingau zusammentrifft. Wie um seinen Status an der Grenze besonders zu verteidigen, gibt man hier in Sachen Riesling alles und kredenzt mit fruchtig-spritzigen Tropfen einen erfrischenden Kontrapunkt zu den vornehmen Rieslingen der Rheinfront flussaufwärts. Bekannter ist das noch verbliebene westliche Drittel, der Bereich Bingen, aber für den Ingelheimer Rotwein. Wie eine kleine Insel liegt die Stadt inmitten von Riesling und Müller-Thurgau. Der Portugieser ist Platzhirsch, er hat hier Tradition und ist mit seiner Fruchtbetontheit eine sichere Bank als Alltagswein für die Winzer, aber geschmacklich anspruchsvoller kommt doch der Spätburgunder daher. Anders als beispielsweise Vertreter aus Baden spielt er hier nicht so hochkonzentriert auf, dafür aber frisch und elegant und oft mit dem perfekten Einsatz von Holz. Der Dornfelder, der den Rotweinboom einst ausgelöst hatte, liegt nach Fläche zwar nach wie vor klar vorn, dürfte in der Zukunft aber einbüßen, wenn noch mehr Winzer das ungeheure Potential des Spätburgunders erkennen. Zumal dessen Anbau durch die zunehmend wärmeren Temperaturen vereinfacht wird.
Davon profitiert auch eine andere Rebsorte - wieder, könnte man hinzufügen, denn anders als der Spätburgunder ist der Silvaner in Rheinhessen schon seit Jahrhunderten heimisch, vor 100 Jahren nahm er zwei Drittel der dortigen Weinbaufläche ein. Dass er mittlerweile auf weniger als ein Zehntel dieser Fläche zurückgedrängt wurde, liegt an der schon erwähnten Massenvermarktung: er benötigt viel Pflege, sonst fällt der Ertrag rapide ab. Dennoch ist Rheinhessen noch immer das größte Silvaner-Anbaugebiet der Welt, noch vor Franken, das für seine Version deutlich bekannter ist. Stolz etikettieren viele Winzer ihn deshalb auch mit „RS“, mit Rheinhessen-Silvaner. Gerade für diejenigen, denen ein Riesling oft zu viel Säure an den Tag legt, ist er die perfekte Alternative.
Man sieht, es gibt hier kaum etwas, das nicht versucht wird: Silvaner wiederbeleben, Rotwein und Burgunder ausbauen, sich an Chardonnay und Sauvignon Blanc heranarbeiten und natürlich Rieslinge auf ein noch höheres Niveau heben. Über die Ehrenrettung Rheinhessens ist man dabei schon lange hinaus; jetzt gilt es, die Schüchternheit abzulegen auf Augenhöhe mit den Nachbarn zu kommen. Das Dreieck zwischen Bingen, Mainz und Worms hat viel von einem vor sich hindämmernden Riesen, der sich seiner eigenen Kräfte noch nicht so ganz bewusst ist. Und auch wenn mancher feine Rheingauer die Augenbraue heben und von Rheinhessen eitel als der falschen Seite des Flusses sprechen mag: der schlafende Riese erwacht langsam.